Des Werwolfs
Verlangen
I Arle
Sie trat aus der
Hütte und blickte mißtrauisch aus farblosen Augen in die junge
Nacht. Heute war es soweit, heute würde sie es wagen, ja wirklich!
Geschmeidig lief sie in gebückter Haltung an den Hütten entlang,
wobei sie intensiv horchte, aber wie geplant war die Wache auf der anderen
Seite des Dorfes, während die Dorfbewohner wohl kaum herauskommen
würden.
Diese Narren, dachte sie, bei Vollmond
hocken sie alle in ihren Hütten und beten zu Seter, ihrem
schwächlichem Gott.
Sie war hier in Solders Heim geboren, aber
ihre Eltern waren so früh gestorben, das sie sich kaum noch an sie
erinnern konnte. Sie wuchs dann bei einer alten Frau auf, die vor einigen Tagen
aber ebenfalls gestorben war. Die letzte Woche war schlimm. Ohne Schutz, den
die alte Frau ihr immer noch geboten hatte konnte sie sich den zunehmenden
Belästigungen der Männer kaum noch erwehren, während die Frauen
sie wegen ihrer Freiheit und ihrer Schönheit angeiferten.
Nun hatte sie gestern vom Ältestenrat den Befehl
bekommen, einen der jungen unverheirateten Männer zu heiraten. Doch sie
dachte überhaupt nicht daran, sich diesem Haufen alter Narren zu beugen,
zumal die Aussichten hier einen vernünftigen Mann zu finden, in ihren
Augen sehr klein waren. Sie hatte ganz andere Pläne, sie würde in die
Stadt gehen, aber nicht als armes Mädchen vom Lande, sie würde sich
einen Schatz besorgen, den Tempelschatz des Seter. Dann, noch heute Nacht,
würde sie gehen.
Diese Gedanken liefen ihr durch
den Kopf, während sie mit äußerster Vorsicht durch das Dorf
schlich. Vorbei am Marktplatz, auf dem man gut die Umrisse des Brunnens sehen
konnte. Vorbei an der Hütte des Dorfältesten, der wohl nicht einmal
eine Tierherde gehört hätte, geschweige denn ihren leichten Schritt.
Vorbei am Gehege der Ziegen, die in der Dunkelheit leise und fragende
Geräusche von sich gaben. Vorbei am Verschlag des Dorftrottels, den sie
auch viel zu gut kannte. Dann lag der Tempel des Seter vor ihr, zimlich klein
und schmucklos, nur wenige Räume umfassend.
Sie
huscht zu dem kleinen Seiteneingang, richtete sich auf, zufriedene Gedanken
liefen ihr in den Sinn. Bald war es geschafft, noch wenige Minuten voller
Spannung, dann ein heimliches Schleichen, um das Dorf zu verlassen, danach
würde sie frei und unabhängig sein.
II Dingo
Er erwachte
langsam, seine Lieder gaben die gelblichen Augen frei, und er blickte in den
späten Nachmittag, in dem die Sonne nur noch zwei Handbreit über der
großen Ebene hing. Er stand auf und sah in den untergehenden Glutball,
von dort richtete sich sein Blick auf das Dorf das man gerade eben noch in den
flimmernden Luftschichten erkennen konnte. Er wandte sich um und ging zu dem
Wasserloch, eine kleine Lache, die durch irgendwelche Zuflüsse aus dem
Gebirge genährt wurde. Er wusch sich die Tageshitze aus dem Gesicht, trank
erwas und betrachtete sein Spiegelbild im Wasser. Er grinste sich an, strich
sich die Haare aus der Stirn, Haare, die meistens überall waren, nur nicht
dort wo er sie haben wollte. Er streckte sich die Zunge heraus, verdrehte die
Augen, lachte auf, dann warf er sich rücklings in den Sand, weicher
gelblicher Sand.
Seine Augen fingen eine einsame Wolke,
während er wieder das VERLANGEN spürte. Diese Nacht war eine
Vollmondnacht, er würde jagen, hetzen und die Freiheit spüren. Er
ließ seine Gedanken schweifen, sie liefen die Pfade seine Erinnerung
entlang, wobei sie angenehme und unangenehme Gedanken weckten. Angenehme wie
der Erinnerung an seine Mutter, unangenehme wie die Vertreibung, die zu seiner
Wanderung geführt hatte. Seine Wanderung, "Ach ja", seufzte er, sie war
schrecklich und schön, wie würde sie enden?
Aber dann, als die Wölfe kamen, gesättigt und gut aufgelegt,
vergaß er diese Gedanken. Lachend spielte er mit ihnen, warf einen sogar
ins Wasser was dieser überhaupt nicht lustig fand und deswegen mit
eingezogenem Schwanz beleidigt knurrte. Es waren fünf Wölfe, vier von
ihnen große Exemplare aus den nördlichen Tundren, die ihn schon seit
zwei Jahren begleiteten; er hatte sie aus seiner Heimat mitgebracht. Den
fünften hatte er bei der Überquerung des Gebirges in sein Rudel
aufgenommen, er war kleiner aber flinker als die anderen.
Plötzlich erstarrte er und mit ihm seine Wölfe. Er
sah über den ganzen Himmel. Die Sonne war gerade untergegangen,
während der Mond eben hinter den Bergen hervorlugte. Er war zwar noch
hell, wie im Sommer in diesen Breitengraden üblich, aber er konnte den
Mondaufgang nicht nur schwach sehen, sondern kräftig fühlen.
Während seine Wölfe um ihn herum anfingen zu heulen, überkam ihn
wieder diese Macht.
III Arle
Sie
könnte heulen, jawohl, alles hatte so gut geklappt, kein Fehler und dann
das. Nun saß sie hier in der kleinen Hütte die gemeinhin als
Gefängnis diente, wenn mal, selten genug, eines gebraucht wurde.
Wütend und kein bißchen beschämt saß sie da, die
Hände kneteten die Fußgelenke, während die Bilder noch einmal
zurückkehrten.
Das einfache Schloß der Tür bereitete
ihr keinerlei Schwierikeiten. Es sprang nach wenigen Sekunden auf, und sie
huschte hinein, nicht ohne die Tür vorsichtig zu schließen. Sie
kannte den Tempel gut, sie hatte sich oft genug erniedrigt, zusammen mit dem
Dorftrottel die Räume gesäubert und aufgeräumt, dabei die
Bemerkungen des dummen Pristers ertragen, aber sie wußte ja wofür.
So bereitete es ihr keinerlei Schwierigkeiten sich den Weg im dunkeln zu
suchen. Der Tempel war zwar klein, aber doch der größte seiner Art
im Umkreis von vier Tagesritten. Sie erreichte ohne Mühe den Raum, in dem
der Schatz des Tempels in einer kunstvoll geschnitzten Holztruhe aufbewahrt
wurde. Der Raum wurde von zwei unruhig flackenden Kerzen erhellt. Außer
diesen Kerzen befanden sich nur noch Seters Statue und ein mäßig
verzierter Schrein, auf dem die Truhe stand, in dem Raum. Es gab keine Wachen,
angeblich sollten die vier großen Arme am Eingang jeden Dieb fangen, doch
daran glaubte sie nicht. Es klappte gut, mit flatterndem Herzen, aber
einigermaßen festen Beinen war sie an den vier mächtigen
bronzefarbenden Armen vorbeigeschlichen, die aber hatten sich, wie erwartet,
nicht bewegt. Sie war auf die Truhe zugegangen, hatte sie aufgeklapt und
freudig erregt den Inhalt betrachtet. Damit würde es sich leben lassen in
einer der großen Städte. Sie wollte sich eben umdrehen, um den Raum
zu verlassen, da begann ein schreckliches Heulen.
Sie
rotierte blitzschnell herum und sah auf den Eingang. Die bronzenen Arme hatten
sich bewegt, jetzt hielten sie den verzweifelten Dorftrottel gefangen. Er
mußte sie gesehen haben, als sie an seinem Verschlag vorbeikam und
neugierig hatte er sie verfolgt. Das gerade bei ihm die Arme zupackten hielten
Arle und er gleichermaßen für eine Ungerechtigkeit. Sie konnte nicht
vorbei, die Arme versperrten nun drohend den Weg. Der Prister kam, schlug einen
riesigen Krach und alarmierte etliche Dorfbewohner, die noch mehr Krach
machten. Sie verstummten erst, als der Prister auf sehr eindrucksvolle Weise
die Arme besänftigte, den Dorftrottel wegzerrte und dann auch Arle aus dem
Raum holte.
Nun saß sie hier, alle Pläne
waren zerschlagen, während der Ältestenrat über ihr Schicksal
beriet. Er würde sich kaum die Chance entgehenlassen, sie wegzujagen, das
würde das Leben im Dorf wieder ruhig machen und mehr hatten sie wohl kaum
im Sinn. Sie war zornig aber auch traurig, sie blickte auf den Mond, der voll
und rund schon fast im Zenit stand Als Wölfe heuelten schauderte sie.
IV Dingo
Er lief voller
Kraft und Lebensfreude über die Ebene, er probte seine Laufkünste am
eigenen schwachen Schatten, den das Mondlicht warf, vergebens. Er schnappte
spielerisch nach den Flanken seiner Wölfe, haschte nach den Zweigen der
Bäume, verfolgte ein Kaninchen fünfzig Meter weit, ließ es dann
aber laufen. Heute jagte er andere Beute, auch wenn die Chancen schlecht
waren.
Er hatte seine Kleider abgelegt, oben bei der
kleinen Wasserstelle, weil sie nur hinderlich waren bei dem, was er nun
vorhatte. Er hatte die Wahl, er war Herr über die Kraft der Verwandlung,
sie war kein Zwang. Heute wollte er, und für eine Sekunde war er in ein
Flimmern gehüllt, das seine Konturen verwischte. Innerhalb dieses
Flimmerns liefen in einer beschleunigten Zeit die Vorgänge ab, die er so
gut kannte: Seine Hände degenerierten zu Pfoten, sein Kopf transformierte
sich in eine andere Form, seine Haut wurde mit unzähligen Haaren bedeckt
und das rudimentäre Erbe des Affenschwanzes wüchs zu einer
kräftigen Rute. Die Schmerzen waren erträglich, nur ein Brennen auf
der Haut und ein Ziehen in den Knochen begleiteten die Metamophose. Sein Rudel
hatte stillgelegen, doch als er fertig war heuelte es triumphierend zum Mond
hinauf.
Er genoß die tausend Gerüche, die die
scheinbar so leere Ebene erfüllten und die ihm durch sein unendlich
intensiviertes Geruchsvermögen zugänglich geworden waren. Er
spürte einen kampfbereiten Dachs und einen unentschlossenen Marder. Er
konnte jetzt, als er zwischen den wenigen Bäumen hervortrat, auch das Dorf
wittern, es lag dieses für Menschen typische Gemisch in der Luft. Er
schnellte sich vorwärts, mit ihn sein Rudel, und wie immer, wenn er in
seiner Wolfsgestalt war, kontrollierte er es vollkommen, stand mit ihm in
Rapport, allein mit der Kraft seiner Gedanken. Sie verließen die
Baumgruppe in Richtung auf das Dorf, zwischen den großen Büschen
hindurch. Sie waren noch gut eine Meile vom Dorf entfernt und er spürte
wieder dieses bittersüße Begehren.
Dann kam über die
tiefe Bindung, die ihn mit seinen Wölfen verband, eine Meldung herein.
Einer der Wölfe hatte einen Menschen entdeckt, außerhalb des Dorfes
und sofort schwenkte der Rest des Rudels in seine Richtung.
V
Arle sah, wie sich
hinter ihr das Tor des Dorfes schloß, wobei die Stimmen der Dorfbewohner
erst leiser wurden und dann ganz verstummten. Man hatte sie aus der Hütte
geholt und vor den Ältestenrat geführt, wo ihr das Urteil genannt
wurde, Daß sie noch heute Nacht ihre Verbannung antreten sollte, war eine
ungewöhnliche Härte und nur durch die gewaltige Blaspemie ihrer Tat
zu erklären. Sie hatte sich von niemandem verabschiedet, sondern nur
schweigend den Nahrungsmittelvorrat, ausreichend für zwei Tage, an sich
genommen. Man hate Arle an das Tor geführt, ihr nochmals gesagt, welche
Folgen eine Rückkehr haben würde und dann wollte der Priester sie
trotz allem im Namen Seters segnen, da war sie schnell aus dem Tor
gelaufen.
Hier stand sie nun, etwas verzweifelt aber doch voller
Hoffnung. Sie würde sich zu der nächsten großen Stadt
durchschlagen von der sie gehört hatte: Kan-tata, die Stahlende, in der
unvorstellbare Reichtümer auf jeden jungen mutigen Menschen warteten. Arle
setzte sich in Bewegung, der Weg lag klar vor ihr. Wenn sie erst mal den Rand
der Ebene erreicht haben würde, war der Rest kein Problem. Nicht umsonst
hatte sie viele Stunden den Erzählungen der Händler gelauscht.
Nach einer viertelstunde Weg geriet der Rhythmus ihrer
Schritte und der leichte Gang der Gedanken aus dem Takt. Sie hörte das
Heulen der Wölfe in einer Nähe, die es ihr empfahl, in einen Trab zu
verfallen. Der Proviantbeutel schlenkerte um ihre Schultern als sie durch die
nächtliche Ebene lief. Sie hörte das Hecheln und Tappen eines Wolfes
hinter sich und versuchte noch einmal ihren Lauf zu beschleunigen. Der Wolf war
nun ganz dicht hinter ihr, heulte noch einmal triumphierend und sprang sie
an.
Arle rollte sich instinktiv zusammen, was
Verletzungen und Prellungen auf dem weichen Steppenboden ausschloß, bis
sie zum Stillstand gekommen war, dann, erstaunt daß sie noch lebte,
öffnete sie die Augen. Der Wolf stand hechelnd neben ihr, doch seine
Haltung war nicht bedrohlich. Er kam nun näher, und Arle, vor Schrecken
starr, nahm voller Staunen auf was nun geschah.
Er
leckte ihr über die Nase und Augen, sah sie an, fast menschlich. Er
schnüffelte an ihren Brüsten und an ihrem Bauch. Arle, die sich
erstaunt aufgerichtet hatte, sah, daß ihn die geschlechtliche Erregung
erfaßt hatte. Er trat nun einige Schritte zur Seite, hockte sich auf die
Hinterbeine, heulte wild zum Mond hinauf, dann blickte er ihr ins Gesicht.
Sichtbar konzentrierte er sich, seine Gestallt verschwamm
für einen Augenblick, die Konturen verloren sich, festigten sich wieder.
Aus dem Gebilde erstand ein junger Mann, sechs Fuß groß, braune
Haare und für dieses Zeitalter erstaunlich friedfertig aussehend.
Die
Hände im Schoß gefaltet und etwas verlegen aussehend sagte er: "Ich
bin Dingo, der Wolf."
Sie starrte ihn an und sagte: "Und
ich bin Arle, aus Solders Heim, dem nächsten Dorf."
"Ich belästige dich relativ ungern damit, aber wenn ich dich nicht zu
meiner Gefährtin für diese Nacht mache, zerreißen dich die
Wölfe meines Rudels. Kannst du sie hören?" fügte er hinzu.
In diesem Moment konnte man tatsächlich die Wölfe
hören, und zwar ziemlich nahe.
Ängstlich
fragte sie: "Gibt es keine andere Möglichkeit?"
"Keine, es ist wegen des Geruches", erwiderte er mit einem breiten Grinsen.
"Na schön", seufzte sie schicksalsergeben, "aber
laß uns wenigstens zu dem Gebüsch dort gehen.
Eine
halbe Stunde später lagen sie in der warmen Nacht, unterhalb eines
großen Strauches. Um sie herum ruhten die sich friedlich gebenden
Wölfe, von denen nur manchmal einer verhalten knurrte. Dingo streichelte
den, der auf seiner linken Seite lag, während er zufrieden in den Himmel
guckte. Auf der anderen Seite lag Arle, ebenfalls den Vollmond und die Sterne
betrachtend.
Sie sagte: "Und deine Wölfe
hätten mich wirklich getötet, wenn wir nicht...?"
Er wandte den Kopf, lächelte sie an und sagte:
"Natürlich nicht, denn als Werwolf habe ich absolute Befehlsgewalt
über mein Rudel. Es war doch aber ein gutes Argument, oder?"
Sie lächelte zurück und hieb ihm spielerisch in
die Seite: "Aber es war auch nicht gerade die feine Art."
Er zuckte übertrieben zusammen und keuchte: "Gnade,
Gnade."
Dann sprang er auf und zog sie hoch: "Laß
uns zu meinen Sachen gehen dann ziehen wir weiter, in Richtung Süden, du
kannst ja doch nicht zurück in dein Dorf."
Arle
sagte: "Ich glaube, für uns wird es kein Problem sein, in Kan-tana einige
Reichtümer zu erlangen."
"Das dürfte bei
unseren Talenten wirklich keine Schwierigkeit darstellen."
Sie schritten in Richtung des Gebirges, das Wolfsrudel
umspielte sie.
- Ende -